Zeichnen fasziniert mich seit ich einen Stift halten kann. Seitdem begleitet sie mich auch. Einen großen Teil meines Lebens verbringe ich seit jeher zeichnend, eigentlich seit dem Kindergartenalter (lacht). Ich freue mich daran, beobachten zu können, wie die Zeichnung sich im Laufe der Zeit immer wieder verwandelt und ihre eigene Entwicklung genommen hat. Der Umgang mit der Zeichnung macht mich optimistisch und froh. Da bin ich in meinem Element. Wie ein Fisch im Wasser – wie man so schön sagt. Die Zeichnung ist da, aber sie gehört mir nicht. Sie ist ein Geschenk, Lehrerin, Freundin, Begleiterin. Meine Lebenszeit und die Zeichnung fließen zusammen. Die Zeichnung erfüllt meine Zeit, nahezu täglich. Ein chinesisches Sprichwort besagt: Ein Vogel singt nicht, weil er die Antwort weiß, sondern weil er ein Lied hat. Die Zeichnung hat in diesem Sinne ein Lied. Sie ist Melodie, Rhythmus, Lebendigkeit. Ein Vogel singt auch, wenn er nicht gehört wird.
Das Umfeld ist nicht so wichtig. Ich kann fast überall zeichnen. Eigentlich brauche ich kein Atelier, ein kleiner Tisch würde mir genügen. Mich freut die Unkompliziertheit und Unmittelbarkeit der Zeichnung, die ohne große Hilfsmittel auskommt.
Ich brauche ein weißes Blatt und Stift, Pinsel, Feder, mit denen feinste Bewegungen der Hand übertragen werden können, wie bei einem Seismographen. Die schöpferische Kraft bringt die Hand zum Schwingen. Dieser traue ich. Die Zeichnung gibt sich mir und ich gebe mich der Zeichnung. Wenn die Zeichnung fertig ist, lässt sie mich dies erkennen und ich lege die Stifte zur Seite. „Das Schöne ist das, was man nicht verändern will“ sagt Simone Weil. Manchmal dauert es Stunden, manchmal Wochen, bis ein Blatt so vollendet ist.
Nein, die Zeichnung fließt. Ich muss sie nicht „machen“. Sie ist mir Stifterin von Lebenslust. Ich gehe eine freiwillige Beziehung mit ihr ein, die ich selbst gewählt habe. Zeichnung ist etwas sehr Intimes für mich. Sie braucht Zeit, Stille und Empfindsamkeit. Die Zeichnung ist verlässlich. Immer einmalig. Nicht ich mache die Zeichnung, möchte ich sagen, das Leben macht die Zeichnung. Ich kann die Zeichnung auch nicht einfordern, sie wächst. Ich zensiere die Zeichnung nicht, ich lasse sie laufen, fließen, hüpfen, tanzen - was immer sie gerade vor hat.
Nein. Die Zeichnung braucht Regelmäßigkeit, Freiheit und Leichtigkeit. Die Zeichnung spiegelt nicht meine Gefühlslage wieder, sie ist autonom. Sie entsteht auch nicht etwa unter Trance, Hypnose oder Drogeneinfluss. Ich meine, mittels der écriture automatique wurden andere „Geister gerufen“ als die schöpferische Kraft, die meine Zeichnungen entstehen lässt. Aber richtig ist: Die Zeichnung wächst, wenn die Bilder zerbrechen, die ich mir von ihr gemacht habe. Zeichnen bedeutet mir das Loslassen von Erwartungen, Vorstellungen und Besitzansprüchen. Zeichnen ist das Gegenteil von Nützlichkeit. Die Zeichnung ist vielmehr eine Spur von Schönheit in der Welt.
Nein, Zeichnen ist eine Form des Tuns und Tätigseins. Die schöpferische Kraft dahinter wird erst im Vollziehen des Zeichnens sichtbar. Die Zeichnung, die so entsteht, trägt verrätselte Züge, sie bleibt ein Wunder für mich.
Ganz einfach: In der Tradition all derer, die ohne Eigennutz ein Zeichengerät in Bewegung gesetzt haben.
Mit Agnes Martin, Emma Kunz, Guo Fengyi, Sophie Taeuber-Arp, wäre ich gerne befreundet gewesen, weil ich meine, dass sie in Kontakt mit dieser schöpferischen Kraft waren, ihre Quellen in ihr fanden.
Zeichnen Frauen anders als Männer?
Oft versuchen Frauen wie Männer zu zeichnen. Eine schwierige Frage: Was ist typisch? Frauen, Künstlerinnen, sind eher bereit zu empfangen, sich von ihrer Intuition leiten zu lassen, haben ein Gespür dafür, dass auch die Seele Nahrung braucht und finden heraus, welche Nahrung dies sein könnte. Frauen hatten von jeher, man denke an die Musen der Antike, einen besonderen Bezug zur Schönheit und zeigen eine liebende und bewahrende Haltung allem Lebendigen gegenüber.
Im praktischen Leben werden diese Eigenschaften gerne goutiert, als Wesenzüge bzw. Zugänge zum eigenen Leben aber eher ignoriert oder gar belächelt. In die Kunstwelt, oder besser gesagt, auf den Kunstmarkt übertragen, erfährt die kraftvolle Geste oft eine deutlich größere Wertschätzung als die leisen Töne. Künstlerinnen sind bislang eher in dem Maße erfolgreich, wie sie sich von der Kunst ihrer männlichen Kollegen nicht unterscheiden. Hierzu ein provokatives Zitat von Romano Guardini: „Die Welt geht am Maskulinen zugrunde, buchstäblich“.
Die frühen gegenständlichen Arbeiten waren der Dingwelt verhaftet. Unter dem Binokular entstanden minutiöse Studien gebrochener Fliegenkörper und anderer Insekten. Seit 1994 entwickelte ich meine Technik der Punktlasur, die zum charakteristischen Kennzeichen beinahe aller Werkphasen wurde. Die seit 1999 entstandenen Stilleben werden ab 2004 abgelöst durch FarbLichtFlächen, handtellergroß. Seit 2008 zeichne ich „Innere Bilder“, geformt aus Punkt- und Linienrhythmen, zunächst noch verhalten in ihrer Farbigkeit. Das Angermuseum Erfurt widmete 2011 dieser Tuschfederzeit eine Einzelausstellung und ein Katalogbuch („Den Anfang zeichnen“). Es folgten Jahre des zurückgezogenen Zeichnens. Die Zeichnung aber floss ohne Unterlass.
In dieser Zurückgezogenheit hast Du Dein graphisches Werk kontinuierlich weiterentwickelt, die farbige Zeichnung, organische Formen, die Linie und aktuell wieder die Punktlasur waren Themen der letzten Jahre.
Stimmt, die Zeichnung ist ihren Weg beständig weiter gegangen. Dabei hat sich das Spektrum ihrer Techniken verbreitert: Arbeiten in Buntstift oder Eitempera kamen z.B. hinzu, ebenso nahm die Mischtechnik einen breiten Raum ein. Einzelne Zeichnungen entstehen nun auch auf größeren Formaten von bis zu 9 m Länge. In den letzten Jahren trat die Punktlasur wieder stärker in den Vordergrund, wobei die Variationen der Tonwerte einer Farbe ein zentrales Thema bildete. Im Rückblick nimmt die Zeichnung über die Jahre einen spiralförmigen Verlauf. So kehrt sie wieder und wieder zu Themen zurück, die in der Vergangenheit behandelt wurden und begegnet diesen auf gleichsam anderer Ebene neu.
Ich freue mich sehr, in Dir, Fenna, eine „Augenfreundin“ gefunden zu haben, die den Mut hat, die Blätter wieder ans Licht und zum Betrachter zu bringen. 2007 hatte ich meine erste Ausstellung überhaupt in München in der Galerie Susanne Albrecht. 12 Jahre habe ich in Gröbenzell bei München gelebt und gezeichnet. Nun finden Blätter wieder den Weg zurück nach München. Das ist sehr schön für mich!
Welchen Gruß möchtest Du der Gruppenausstellung mit auf den Weg geben?
„Behalte in schwierigen Zeiten immer etwas Schönes in Deinem Herzen“ (Blaise Pascal).
Vielen Dank, liebe Christine!
Christine Leins | |
1969 | in Kaiserslautern geboren |
1990-1970 | Studium der Philosophie und Freien Kunst an der Universität/ Kunsthochschule Mainz |
1996 | Förderstipendium der Universität Mainz |
1997 | Diplomabschluss im Fach Zeichnung |
seit 1997 | freischaffend arbeitend in Tübingen |
Einzelausstellungen | |
2012 | Galerie Vero Linzmeier, Berlin |
2011 | Angermuseum Erfurt (Katalog) |
2009 | Städtische Galerie Weingarten |
2008 | Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken (Katalog) |
2007 | Galerie Susanne Albrecht, München |
Gruppenausstellungen | |
2019 | POSITIONS Munich Art Fair |
Linie I Poesie, Galerie Fenna Wehlau, München | |
2014 | Die schönsten Zeichnungen, Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern |
Kornhausgalerie Weingarten: „2002-2014“ (Fotografie und Malerei) | |
2013 | Galerie der Künstler München: „München zeichnet“ |
2011 | Städtische Galerie Fürth: „Soul Train“ |
2010 | Städtische Galerie Offenburg: „Die fabelhafte Welt der Zeichnung“ (Boolet) |
2009 | Pinakothek der Moderne: „Die Gegenwart der Linie“ (Katalog) |
2008 | Haus der Kunst München: „Große Kunstausstellung 2008“ (Katalog) |
Arbeiten in öffentlichen Sammlungen | |
Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin | |
Kunstmuseum Bonn | |
Kupferstich-Kabinett Staatl. Kunstsammlungen Dresden | |
Museum Kunst Palast Düsseldorf | |
Angermuseum Erfurt | |
Museum für Neue Kunst Freiburg | |
Pfalzgalerie Kaiserslautern | |
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe | |
Landesmuseum Mainz | |
Kunsthalle Mannheim | |
Staatliche Graphische Sammlung München | |
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg | |
Staatsgalerie Stuttgart | |
Ulmer Museum | |
Kupferstichkabinett der Akademie der Bildenden Künste, Wien | |
Bibliographie | |
Saarländisches Künstlerhaus (Hrsg.); 2008: „Christine Leins: Arbeiten auf Papier“. | |
Große Kunstausstellung Haus der Kunst München (Hrsg.); 2008: Katalog zur Ausstellung. | |
Semff, Michael & Strobl, Andreas; 2009: Die Gegenwart der Linie. | |
Städtische Galerie Offenburg (Hrsg.); 2010: Die fabelhafte Welt der Zeichnung. Wolfram Morath-Vogel, Hellen Adkins; 2010: "Den Anfang zeichnen: Christine Leins - Arbeiten auf Papier", Katalog zur Ausstellung im Angermuseum Erfurt. |
GALERIE FENNA WEHLAU, Amalienstraße 24 + Showroom 21, 80333 München-Germany
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